Das Corpsstudententum in der Schweiz blickt auf eine über 150jährige Tradition zurück. Während an deutschen Universitäten wie Halle (Saale), Giessen und Erlangen unter dem Einfluss der Ideenwelt des Klassischen Idealismus schon vor 1800 aus einer Symbiose landsmannschaftlicher Verbindungen und studentischer Orden sogenannte "konstituierte Landsmannschaften" entstanden, die nach 1810 allmählich die Selbstbezeichnung "Corps" annahmen, dauerte es in der Schweiz bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts, ehe sich die ersten Corps nach dem Vorbild deutscher Universitäten herausbildeten.
Tigurinia
Tigurinia wurde am 11. November 1850 von drei Mitgliedern des ehemaligen Corps Hilaria Zürich (1847–1849) und neun Angehörigen der kurzlebigen Verbindung Fuchsia Zürich gestiftet, nahm schnell einen bedeutenden Aufschwung und wurde durch seine straffe Organisation zum Vorbild für viele andere studentische Verbindungen in Zürich. Bereits im ersten Semester gehörten ihr 10 % der gesamten Zürcher Studentenschaft an. Ihre Mitglieder rekrutierten sich etwa zur Hälfte aus Schweizern und Deutschen. Auch als die Schweizer Mitglieder im Winter 1856/57 im Konflikt um das Fürstentum Neuenburg geschlossen in das Freicorps der Zürcher Studentenschaft eintraten, tat dies dem inneren Zusammenhalt keinen Abbruch. 1862 trat Tigurinia als Einzelcorps dem KSCV bei. Seit den 1860er Jahren bestanden offizielle Beziehungen zu deutschen Corps wie Nassovia Würzburg, Rhenania Heidelberg, Franconia München, Guestphalia Berlin, Franconia Tübingen, Teutonia Gießen, Rhenania Straßburg. Saxonia Leipzig und Baltia Königsberg.
Tigurinia kommt als einzigem über einen längeren Zeitraum bestehenden Kösener Corps in der Schweiz studentengeschichtlich eine besondere Bedeutung zu. Schon in seinen ersten Jahren fand es Interesse und Anerkennung bei der Professorenschaft der Universität, die seine Veranstaltungen regelmäßig besuchte. Durch einen hohen Anteil Schweizer Militärs, Politiker und Wissenschaftler spielte es auch im außeruniversitären Gesellschaftsleben eine große Rolle. Universitätsgeschichtliche Bedeutung erlangte Tigurinia im Juli 1864 während des Auszugs der Polytechniker nach Rapperswil. Als Universitätscorps war Tigurinia eigentlich nicht betroffen, erklärte sich aber solidarisch und wurde um die Übernahme der Führung ersucht. Die Aufnahme von Angehörigen des Polytechnikums in das Corps wurde damals allerdings noch abgelehnt. 1870 erfolgte wegen der Mobilmachung der deutschen Mitglieder eine vorübergehende Suspension, 1873 die Rekonstitution durch Angehörige der roten Helvetia.
Probleme bereitete in dieser Zeit immer wieder das behördliche Verbot des studentischen Fechtens. 1882 wurde das Corps wegen Verstössen gegen das Duellgesetz kurzfristig zwangsaufgelöst, konnte aber unter dem Decknamen Teutonia weiterbestehen. Während sich an anderen Schweizer Universitätsstandorten über den Ersten Weltkrieg hinaus keine Kösener Corps halten konnten, bestand Tigurinia mit weiteren kurzen Unterbrechungen (1884–1893, 1914–1918) zunächst bis 1923, musste dann aber aus Nachwuchsmangel erneut den Aktivenbetrieb einstellen. Pläne zu einer Übersiedlung nach Frankfurt am Main wurden ebenso wenig verwirklicht wie eine wiederholt diskutierte Fusion mit Franconia München. Stattdessen wurde Tigurinia 1927 bei erneuter Rekonstitution nach Köln verlegt. Hier erfolgte am 13. Mai 1928 auch die Gründung des Verbandes alter Tiguriner als erstem ordentlichen Zusammenschluss der Alten Herren des Corps. Unter dem 1. November 1931 suspendierte Tigurinia letztmalig und beschloss die Rückverlegung nach Zürich ohne Rekonstitution.
Mit dem Ablauf der in den Kösener Statuten vorgegebenen Rekonstitutionsfrist und dem Ableben des letzten Mitglieds ist das Corps erloschen. Der corpsstudentische Gedanke wurde aber durch die Vereinigung Alter Corpsstudenten in der Schweiz (VACS), die sich aus Angehörigen verschiedener Kösener und Weinheimer Corps zusammensetzt, am Leben erhalten. Mit der Stiftung der Tigurinia II am 20. Juni 2007 trat ihr auch wieder ein aktives Corps zur Seite.
Helvetia Zürich
1865 entstand in Zürich die Verbindung Helvetia (Rot-Helveter), die im gleichen Jahr als Sektion der Schweizerischen Studentenverbindung Helvetia beitrat. Sie vertrat den Grundsatz der unbedingten Satisfaktion, was zu Spannungen mit anderen Sektionen führte, die das Mensurprinzip nur zum Teil angenommen hatten und nicht zur unbedingten Satisfaktion übergehen wollten. Die Rot-Helveter traten daraufhin aus und stifteten eine neue Helvetia (Blau-Helveter), die wiederholt die Umwandlung in ein Corps in Erwägung zogen. Auf Antrag des bereits philistrierten Mitglieds Dvoracek konstituierte sie sich schließlich als Corps und renoncierte im KSCV. Dvoraceck meldete sich wieder aktiv und übernahm vorübergehend die erste Charge. Am 17. Januar 1878 wurde das Renoncierungsgesuch für den KSCV eingereicht. Allerdings woillte die überstimmte Minderheit der Blau-Helvetia die Verbindung in der bisherigen Form weiterführen. Auch die Auflösung des Corps Helvetia und der Übertritt der Mitglieder zur Tigurinia wurde erwogen. Schließlich entschied man sich für die Gründung eines weiteren Corps, das ebenfalls den Namen Helvetia führte. Seine Farben waren weiß-rot-blau-weiß. Offizieller Stiftungstag war der 28. Januar 1878.
Widerspruch der Tiguriner gegen die von den Helvetern eingeführte blaue Mütze führte im Februar zur Änderung der Farben in hellgrün-gold-rot mit grüner Mütze. Am 13. Februar wurde eine neue Constitution beschlossen und der 15. Februar fortan als Stiftungstag ausgewiesen. Helvetia verfügte am Ende des ersten Semesters über sieben Corpsburschen und zwei Renoncen. Sie wurde am 1. Juni 1878 in den KSCV recipiert und bildete fortan gemeinsam mit Tigurinia den SC zu Zürich. Im Sommersemester 1878 kam es zum Abschluss eines befreundeten Verhältnisses mit Rhenania Bern, im Wintersemester 1879/80 mit Suevia Straßburg und im Wintersemester 1881/82 mit Rhenania Freiburg.
Wie Tigurinia musste auch Helvetia 1882/83 unter einem Decknamen agieren und nahm den Namen "Hansea" und die Farben orange-weiß-schwarz an. Infolge zeitweiliger Suspension der Tigurinia erhielt Helvetia 1884 alleine die Rechte des SC. Im Sommersemester 1884 trat die Verbindung Alpigenia an das Corps heran, um mit ihm in ein näheres Verhältnis zu treten. Helvetia lehnt indessen unter Hinweis auf die Kösener Statuten ab. Alpigenia nannte sich später Neu-Alpigenia, wurde freischlagend und verschwand bald wieder von der Bildfläche. Die teuren Paukreisen, Streitereien und schlechter Nachwuchs setzten dem Corps zu. Im Februar 1884 unter Kuratel der Alten Herren und Inaktiven gestellt, beschloss der Corpsburschenconvent am 15. Februar 1885 die Suspension, die am 2. Mai 1885 bestätigt wurde. Ein Rekonstitutionsversuch wurde nie unternommen.
Die Corps in Basel und Bern
Alamannia Basel ging aus einer 1865 gegründeten Landsmannschaft mit unbedingter Satisfaktion hervor. Als Corps wurde sie am 20. November 1869 gestiftet. Ihre Farben waren grün-rot-gold (von unten). Sie renoncierte am 26. Mai 1870 beim SC zu Freiburg im Breisgau und wurde am 2. März 1871 in den KSCV recipiert. Auf dem ordentlichen Kösener Congress 1872 hatte sie SC-Stimme. Am 23. Mai 1873 suspendiert, wurde sie am 7. Februar 1877 durch den Übertritt von Angehörigen der Basler Gold-Helvetia (rot-weiss-gold) rekonstituiert. Das Corps suspendierte am 2. November 1878 erneut und erlosch zwischen den Weltkriegen. Von den 44 nachgewiesenen Mitgliedern lebten 1928 noch sechs, 1936 noch drei. In der kurzen Zeit ihres Bestehens schloss Alamannia offizielle Beziehungen zu den Corps Brunsviga Göttingen, Hasso-Borussia Freiburg, Thuringia Jena, Saxonia Leipzig, Nassovia Würzburg und Tigurinia Zürich ab. "Vorstellungsverhältnisse" bestanden zu Rhenania Heidelberg, Palatia Straßburg und Suevia München.
An der Universität Bern entstand 1852 erstmals eine Rhenania (I), die schon bald wieder einging. Rhenania II wurde am 18. Juli 1870 gesiftet. Ihre Farben waren schwarz-weiß-orange auf Silber. Am 26. Mai 1871 wurde sie in den KSCV aufgenommen, wo sie offizielle Beziehungen zu Nassovia Würzburg, Suevia München und Helvetia Zürich (Grün-Helvetia) unterhielt. Sie suspendierte nach zehnjährigem Bestehen am 3. Dezember 1880.
Weiterführende Literatur
- Max Richter: Auf die Mensur! Geschichte der schlagenden Korporationen der Schweiz. Beitrag zum schweizer akademischen Leben und zum Waffenstudententum des Auslandes, Zürich 1978
- Robert Develey: Geschichte der schweizerischen corporierten Studentenschaft im 19. Jahrhundert, 2 Bände, Bern 1995